Sternstunden der Vergänglichkeit

Ich lief all die sterilen Gänge entlang, weiße Fliesen an den Wänden und an der Decke, der Boden verdreckt und schmutzig. Ich wusste kaum, wohin ich ging; begriff überhaupt nichts – lief und lief einfach. Treppen führten nach oben, Treppen führten nach unten. Einzelne Stufen, die ich bezwingen musste, Stufen die sich von allein bewegten. Immerzu war mein Schritt so schnell, dass ich bald rannte. So viele Menschen, alle waren mir im Weg. Ich übersah sie, rempelte, schubste, bahnte mir meinen Weg. Manchmal sah ich ihre verfranzten Gesichter, hörte Stimmen der Empörung mir laut nachrufen. Ich hatte keine Zeit für sie. Sie waren mir egal, einfach unbedeutend. Ich sah keinen Zusammenhang zwischen ihnen und mir. Wenn ich kaum lokalisierte, wohin ich ging oder woher ich kam: Was hätten sie mir verraten können? Warum waren sie überhaupt da? Ihre Daseinsberechtigung erschien mir zweifelhaft, deshalb vergaß ich sie sogleich. Ich musste weiter. Rauf, runter, jetzt wusste ich, wo ich war, die vielen Schilder und Wegweiser, die ich so lange übersehen hatte, deuteten es an – U-Bahnstation. Der Weg erschien mir nicht weit, ich glaubte, dass ich hier richtig war. Wieder einmal lief ich Treppen hinunter. Die Schräge versperrte mir die Sicht, aber ich wusste es – hier! Endgültig. Hier war mein Ziel. Ihre Schuhe, ihre Beine, ihr Körper, ihr Gesicht, das war es! Meine Schritte wurden allmählich langsamer. Panik und Hektik verschwanden. Meine Unruhe war mir nun sogar ein wenig peinlich. Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich atmete tief durch. Ohne zu überlegen, ob es richtig sei, lief ich auf sie zu, küsste sie. Sie erwiderte es. Es war selbstverständlich richtig. Ich liebte sie. 

Ich nahm meinen Kopf zurück, sah in ihr blasses, zartes Gesicht, sie war schon immer blass, es machte sie auch schön. Die kurzen braunen Haare, die vor ihren blauen Augen hingen; ich schrie nach Hilfe mit meinem Blick. Doch sie? Sie war so ruhig und schön. Sie lachte sogar. Warum machte ich mir überhaupt Sorgen? Es war so selbstverständlich. Sie nahm meine Hand und wir gingen ein Stück. Wieder führten Treppen rauf und runter. Doch durch ihre Nähe schien der Weg nun klar. Ich musste mich nicht konzentrieren, nicht denken, nur mit ihr gehen. Dann blieb sie stehen und setzte sich. Kurz war ich verloren, schnell tat ich es ihr gleich, setzte mich, doch zwischen ihr und mir war nun ein kleiner Abstand. Sie jedoch zog mich an sich heran, hatte mich sehnsüchtig erwartet. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte, also küsste ich sie. Lang. Wieder konnte ich es kaum glauben und zog meinen Kopf zurück, um mich zu vergewissern, dass sie es war. Etwas stimmte nicht, das war mir klar. Also stand ich auf, versprach ihr, gleich wiederzukommen. Wieder rannte ich all die Gänge entlang, ohne Ahnung und ohne Ziel. Ich bemerkte das Geräusch der Bahnen, die hielten und weiterfuhren, doch sah ich sie nicht, oder beachtete sie kaum. 

Hier war ich falsch. Nicht rekonstruierbar – wo ich war oder was ich tat. Auf einmal wollte ich nur wieder zurück – zu ihr. Die Gänge waren noch immer voll von Menschen.  Ich schlich mich an ihnen vorbei, hatte Angst sie zu berühren. Alles hier war auf einmal fremd. Und hier – war ich noch niemals zuvor gewesen, da war ich mir sicher.

Immer weiter ging ich geradeaus, plötzlich wusste ich wieder, wo ich hinwollte. Ich öffnete die Tür zu einem kleinen abgetrennten Warteraum. Es war mir klar, dass sie hier war. Im Raum selbst war es stickig und laut. Ich sah wenig, hörte kaum. Doch da saß sie, mit dem Rücken zu mir. Der Platz neben ihr war frei. Schnell eilte ich hin, schon saß ich neben ihr. Wieder musste ich sie mit diesem entgeisterten und ungläubigen Blick anschauen. Doch ihr Gesicht strahlte noch immer dieselbe Ruhe aus wie zuvor. Nun küsste ich sie und kurz ergab alles wieder einen Sinn. 

Ein kleiner Junge, den ich kaum beschreiben kann, lief umher und machte einen unbeschreiblichen Lärm, trat und boxte die Menschen, die er traf, selbst jene, die mehr abwesend waren, so als ob sie kaum hier säßen, oder sitzen wollten. Aus irgendeinem Grund erkannte ich, dass die Frau mir gegenüber seine Mutter war. Es muss der routiniert angenervte Blick gewesen sein. Ich wusste nicht weshalb; stand auf und sagte ihr, dass ich für vieles Verständnis habe, ihre Situation wohl kaum einschätzen könne, doch dass ich es als völlige Blödheit ihrerseits sehe, ein kleines Kind wie ihren Sohn verkommen zu lassen. Nur weil sie, die Mutter, einfach zu dumm sei. Zum Glück kümmern sich andere darum, wie immer, nicht wahr? Nach Letztgesagtem zeigte sie ein provokantes Lächeln, das jedoch tatsächlich mehr hilflos als überlegen war. Ich hatte kaum ausgesprochen, da sah ich, wie der Mann neben ihr plötzlich aufstand. Sein Gesicht verriet endlosen Hass, der  allein auf mich gerichtet war. Ich überlegte nicht lange und ergriff die Flucht. Mir war, als wolle er mich umbringen. Ich lief und lief. Noch im Laufen wurde mir klar, dass ich wieder zu ihr zurück musste. Der Mann, der mir so bedrohlich erschien, war mir nie gefolgt, oder hatte es nicht geschafft, mir nahe zu kommen. Ich blieb stehen, besann mich, kehrte um. Wieder wusste ich genau, wo ich hinmusste, also ging ich. Wieder fand ich sie auf einem Bahnsteig, wie immer. Ich ging auf sie zu und küsste sie. Ich hörte, wie eine Bahn langsam einfuhr. Diesmal nahm sie den Kopf zurück. Ich weiß, sie wollte etwas sagen, doch …